Eine alte Wärterin in Afsanas Waisenhaus, so erzählt man sich, saß an einem heißen Tag am Bett eines kranken Schützlings. Lange Jahre der Erfahrung sagten ihr, dass die kleine Albinetta, die blass, schwach atmend und vom Fieber ausgezehrt bei ihr lag, den nächsten Neumond nicht mehr erleben würde.
Die Wärterin war kurz hinaus gegangen, um frisches Wasser zu holen, mit dem sie die Stirn und die Handgelenke des Mädchens kühlen und so ihr Leiden auf ihrem letzten Wege lindern wollte. Die Luft war drückend, und kleine Sonnenstrahlen flirrten durch die geschlossenen Fensterläden wie verirrte Feenlichter. Als sie ins Zimmer zurückkehrte, blieb sie überrascht an der Türe stehen, denn am Bett des Mädchens saß nun ein Fremder, ein Mann mit schlohweißem Haar und sehr hellen Augen. Die Alte konnte sich nicht rühren, wie festgewurzelt blieb sie und hörte den Mann leise und klar reden:
"Kennst du das Land der verstorbenen Kinder? Nein? Lass mich dir eine Geschichte erzählen. Es war einmal ein kleines Mädchen, so wie du, das hatte keine Eltern mehr auf der Welt, sondern lebte bei einem Bauern und musste dort tagein tagaus die schwerste Arbeit tun. In der Früh, wenn noch alle schliefen, musste sie das Feuer entzünden und das Wasser tragen, sodann die Höfe fegen und die Hühner füttern und so weiter in einem fort, bis die Sonne wieder unterging, und das alle Tage gleich. Wer genau hinsah, der konnte sehen, wie das Mädchen immer dünner und schmaler wurde. Ihre Wangen, die einst rot gewesen, wurden erst blass und dann ganz weiß. Ihre Hände wurden schmaler und schmaler, bis die Finger wie Stöckchen aussahen. Die Spuren ihrer nackten Füße im Staub wurden von Tag zu Tag weniger, so leicht war ihr Tritt. Wer genau hinsah, der konnte sehen, wie das Mädchen immer weniger und weniger wurde. Doch es schaute keiner hin. Nur das Mädchen sah sein eigenes Spiegelbild im Brunnen und dachte bei sich: "Nun werde ich wohl bald sterben, und dann ist nichts mehr übrig von mir, und so ist es auch recht."
Dann kam der Tag, an dem es nur noch ein kleiner Hauch war. Es stand auf, um Feuer zu machen wie immer. Doch als es die Fensterläden in der Küche öffnete, ging gerade die Sonne auf und ihre Strahlen fielen durch das Fenster. Sie glitten direkt durch das Mädchen hindurch und es war fort. Doch in diesem Moment trat es hinüber in das Land der verstorbenen Kinder. Vor ihm lag ein Tal aus blühenden Bäumen, durch das ein kleiner Bach floss, und an dessen Ufern spielten viele, viele Kinder ein fröhliches Spiel. Und das Mädchen sah in den Bach und sah ihr eigenes Spiegelbild und schau, sie war gar nicht mehr blaß und schmal, sondern ihre Wangen waren rot, ihre Hände waren fein und rund und glatt und ihre Füße machten lustige Spuren im feuchten Gras. Da lief das Mädchen los und schloß sich dem Reigen der fröhlichen Kinder an und lebte von da an glücklich und zufrieden."
Durch das heiße Zimmer wehte ein sanfter Luftzug, und die alte Wärterin erwachte wie aus einem Traum. Erschrocken trat sie vor. Der Fremde war verschwunden, im Bette lag Albinetta. Ihr Herz schlug nicht mehr, doch sie war mit einem Lächeln auf den Lippen gestorben.