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17. Oktober


Y_sea

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Was, fragte Ypey mich bei einer Tasse heißen Wassers am nächsten Vormittag, ist das größte Problem deiner Welt?

 

Nachdem ich vorgestern über den Wasserverbrauch einer Tasse Kaffee gelesen hatte, hatte ich wieder angefangen, heißes Wasser zu trinken, was genauso gut schmeckt, ich musste mich nur wieder daran gewöhnen, nicht gedankenverloren zum Kaffeepulver zu greifen.

 

Wow, entgegnete ich. Keine leichte Frage. Aber ich habe eine Antwort, die zumindest für mich stimmt. Es ist die größer werdende Kluft zwischen Armut und Reichtum.

 

Was ist daran das Problem?

 

Wie, "was ist daran das Problem"? Du hast doch die letzten Tage darüber gelesen. Es erstreckt sich davon, dass neben verhungernden Kindern Viehfutter in Massen angebaut wird, bis zu dem dramatischer werdenden Stress, den alle in den Industrieländern haben.

 

Ypey trank aus, zog die Jacke an und marschierte Richtung U-Bahn.

 

Das verstehe ich nicht, dachte sie währenddessen weiter. Wieso liegt das an der größer werdenden Kluft zwischen Armut und Reichtum?

 

Naja, angebaut wird, was Geld bringt. Nicht was Hunger stillt. Das ist doch ein Problem.

 

Stimmt, gab sie zu. Aber warum liegt es an der Kluft? Warum liegt es nicht nur an der Armut?

 

Mit gemischten Gefühlen betrachtete ich die beiden Ticketautomaten, von denen einer außer Betrieb war. Er wies tiefe Kratzspuren an der Front auf, so als habe jemand versucht, die metallene Abdeckung abzubekommen.

 

Ich war das nicht, beantwortete Ypey meine nicht gestellte Frage. So stümperhaft würde ich nicht vorgehen. Außerdem habe ich mittlerweile begriffen, dass der erste Schritt nicht das Nachsehen im Automaten wäre, sondern die Informationsbeschaffung über das Internet.

 

Aber das sollten wir so machen, dass es niemand zu uns zurückverfolgen kann, murmelte ich geistesabwesend, während ich ein Tagesticket an dem anderen Automat löste.

 

Wir fuhren los.

 

Also?, nahm sie den Faden wieder auf. Warum liegt es an der Kluft?

 

Ich hatte nicht sofort eine Antwort parat. Aber bei Ypey brauchte ich das auch nicht, ich konnte mit ihr überlegen.

 

Um in dem Beispiel zu bleiben, begann ich. Ist es nicht so, dass Menschen eigentlich nur ein bisschen Land bräuchten, um darauf die Nahrungsmittel anzubauen, die sie benötigen? Der Reichtum von anderen ist es, was es diesen anderen ermöglicht, ihnen das bisschen Land wegzunehmen. Sie auszugrenzen. Sie müssten nicht reicher werden. Nur weniger machtlos. Machtlos gegen die Interessen der Reichen. Wenn alle die gleichen Chancen hätten, ihre Interessen durchzusetzen, egal, wie viel Geld sie haben, dann wäre Geld vielleicht wirklich nicht das Problem.

 

Aha, fasste Ypey zusammen. Es geht darum, dass die Reichen mehr Möglichkeiten haben, das zu machen, was sie wollen. Und die Armen keine Chance haben, sich davor zu schützen, wenn es gegen ihre Interessen geht.

 

Hm-m, dachte ich. Abenteuer?

 

Noch nicht.

 

Wir stiegen diesmal in der Innenstadt aus und wanderten durch die Yuppie-Fußgängerzone, in der die großen Geschäften ihre Hochglanzfassaden präsentierten. Riesenhafte Banner priesen Produkte an, die niemand wirklich brauchte. Metall und Glas glasierten die Geschäftsräume wie eine sterile Verpackung. Niemanden interessierte es, wie die Waren in die Regale kamen. Wer sie unter welchen Bedingungen zu welchen Hungerlöhnen produzierte. Auf der einen Seite: Billig, billig billig. Auf der anderen: Schicker als meine Nachbarin. Ich ging nicht gerne einkaufen. Ich fühlte mich nicht wohl. Ich wollte an dem Wahn nicht teilhaben.

 

Aber Ypey ging in ein Geschäft nach dem anderen und sah sich um. Sie ging wieder raus und betrachtete die Schaufenster. Sie ging in das nächste und prüfte den Stoff eines Mantels oder das Leder einer Handtasche. Wieder draußen betrachtete sie die Lichtshow der Werbung. Sie probierte Schuhe an, roch an Parfüm, ließ ihre Finger über dekorative Kerzenständer und riesenhafte Schmetterlinge aus Plastik gleiten. Von einem Geschäft zum nächsten ging sie, kaufte aber nichts.

 

Und zwischen den glitzernden Konsumtempeln saßen gelegentlich bettelnde Menschen.

 

Bei Nike schlüpfte sie in ein paar Joggingschuhe.

 

"Kann ich Ihnen helfen?", fragte eine freundliche Verkäuferin mit glitzerndem Modeschmuck in ihrem blondierten Haar.

 

"Ja", erwiderte Ypey glücklich. Sie sah der Verkäuferin in die Augen, die prompt zur Seite sprangen. "Ich habe mich gefragt, unter welchen Bedingungen diese Schuhe hergestellt wurden. Können Sie mir sagen, ob ein Kind die genäht hat, und wie viel es dafür pro Stunde bekommt?"

 

Das antrainierte Lächeln entglitt der armen Angestellten.

 

Ypey, dachte ich, die macht hier nur ihren Job.

 

"Ähm", sagte sie und blinzelte. "Ich glaube, es gibt ein Broschüre. Letztes Jahr zur Fußball-WM hat Nike eine Broschüre gegen Kinderarbeit herausgebracht. Vielleicht haben wir davon noch welche."

 

Sie floh hinter die Kassentheke und beriet sich mit ihrer Kollegin, die noch aufgetakelter war und an deren dick geschminkten Lippen man nicht vorbei sehen konnte.

 

Ypey stellte sich lässig davor.

 

"Ich weiß ja", sagte sie beruhigend, "dass Sie selbst keinen Einfluss darauf haben, unter welchen Bedingungen die Schuhe produziert werden, weil sie nur Angestellte sind. Aber das mindeste, was sie tun könnten, ist Ihren Vorgesetzten zu sagen, dass es durchaus Menschen gibt, die das Thema interessiert."

 

"Ja, wir werden das weiter geben", lächelte die Kollegin mit dem knallrosa Mund unverbindlich.

 

"Und die zweite Sache", fuhr Ypey unbeirrt fort, "ist die. Sie könnten sich entscheiden, nicht für ein Unternehmen zu arbeiten, das Kinder zu Hungerlöhnen arbeiten lässt."

 

"Ich bin froh, dass ich diesen Job habe!", protestierten die Zuckergusslippen.

 

"Was?!" Ypey war tatsächlich entsetzt. Viel konnte sie nicht aus der Fassung bringen. "Sie sind auch noch dankbar dafür, dass jemand anderes sie ausbeutet? Wie masochistisch ist das!"

 

Ypey!, warnte ich zaghaft.

 

Die Verkäuferinnen schüttelten nur verständnislos mit dem Kopf.

 

"Ich brauche doch Geld zum Leben", wagte die erste zu sagen.

 

"Naja, ein bisschen weniger ... Schminke ... würde Ihnen ja auch nicht schaden", sagte Ypey.

 

Da kam auch schon ein Mann in schwarzem Anzug aus dem Fahrstuhl.

 

Ypey stellte lässig die Turnschuhe, die sie bis dahin noch an den Füßen gehabt hatte, auf den Tresen, grinste den Ankömmling an und lief dann barfuß, mit meinen Schuhen in der Hand nach draußen.

 

Warum wolltest du nicht mit ihm reden?, fragte ich sie. Das war bestimmt der Geschäftsführer.

 

Was hätte das gebracht?, fragte sie zurück. Der kennt die Propaganda seines Ladens. Und ich hatte keine Lust, die nächste Stunde damit zuzubringen, mir die Phrasen anzuhören, von denen er selbst weiß, dass sie gelogen und heuchlerisch sind.

 

Was wolltest du dann da drin?

 

Ich suche nach Leuten, die so unzufrieden mit ihrer Situation sind, dass ich ihnen helfen kann. Typisches Syndrom erfolgreicher Abenteurerinnen. Aber die beiden sprechenden Schaufensterpuppen haben ja noch nicht einmal erkannt, dass sie ein Problem haben. So jemandem zu helfen, macht keinen Spaß. Glaub mir. Langjährige Erfahrung.

 

Ypey setzte sich neben eine alte Frau mit wenigen fauligen Zähnen, die auf einer zusammengefalteten Decke saß und einen Coffee-to-go-Becher vor sich stehen hatte, in dem ein paar Münzen lagen. Ypey wackelte mit meinen Zehen und zog sich dann seelenruhig die Schuhe wieder an.

 

Als sie fertig war, betrachtete sie die Alte einen Moment, die etwas Unverständliches vor sich hin murmelte.

 

"Hier", sagte Ypey und reichte ihr zwei 50-Euro-Scheine.

 

Wo hatte sie die her?

 

Die Augen der Bettlerin wurden groß. Sie wirkten glasig.

 

"Ich möchte dir eine Frage stellen: Was würdest du mit einer Millionen Euro machen?"

 

Die Bettlerin hatte sich die zwei Scheine geschnappt und rappelte sich mühsam auf. Schnelles Schlurfen brachte einige Meter zwischen mich und sie, bevor sie sich noch einmal unsicher umblickte. Ich merkte, wie Ypey ihr verständnislos hinterher sah.

 

Die Bettlerin tappte weiter. Ihren Pappbecher mit 76 Cent hatte sie einfach stehen gelassen.

 

Wieso hat sie nicht geantwortet?, fragte Ypey.

 

Vielleicht hat sie die Frage überfordert.

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