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15. Oktober - vormittags


Y_sea

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Na gut, dachte Ypey am nächsten Morgen als Robin wieder zur Arbeit und Feanor in die Schule gegangen waren. Wenn das Abenteuer nicht zu uns kommt, dann müssen wir das Abenteuer suchen.

 

Aha. Und wie?

 

Ypey wanderte mit meinem Körper durch die Wohnung. Drehte Kreise im Wohnzimmer wie in einem Käfig.

 

Ich wartete ab. Gespannt. Etwas ängstlich. Was hatte sie vor?

 

Schließlich setzte sie sich an den Küchentisch und schlug die Zeitung auf.

 

Du suchst das Abenteuer in der Zeitung?, witzelte ich.

 

Ja, antwortete sie knapp und begann zu lesen.

 

Es war eine linke Wochenzeitschrift, die ich abonniert hatte. Sie war pamphletisch, tendenziös, radikal, sich selbst oft nicht einig. Ich liebte sie. Es gab mir trotz meines, seit Feanors Geburt so bürgerlich gewordenen Lebens das Gefühl, etwas gegen die Gesellschaft zu haben. Nichts Wirksames, aber immerhin.

 

Ypey las über italienische Studentinnen und Studenten, die sich gegen das finanzielle Ausbluten des freien Bildungssystems zur Wehr setzten, über die sympathischen Aktionen der "Robin Hoods der Supermärkte" in Griechenland, über den Ausnahmezustand des Kapitalismus, über Produktionsbedingungen bei der Herstellung von Sportbekleidung, über militante Neonazis in Spanien, über Angriffe auf Migrantinnen und Migranten in Deutschland.

 

Ich merkte, wie sie unruhig wurde.

 

Ypey las weiter. Diskriminierung von Roma in Europa. Rassistische Morde in den USA. Folgen der Finanzkrise. Hungerlöhne in Sao Paulo. Staatliche Überwachung in Frankreich.

 

Ich machte uns zwischendurch einen Kaffee und Ypey zog die alten Ausgaben hervor, die im Umzugsstress untergegangen waren und durchkämmte auch diese.

 

Riesige Genmaisfelder in direkter Nachbarschaft von verhungernden Kindern in Brasilien. Einbürgerungstests. Wasserverbrauchsstatistiken verschiedener Produkte -- ich starrte schuldbewusst in meinen Kaffee, der offenbar einen Wasser-Fußabdruck von 140 Litern hatte.

 

Ypey las ungerührt weiter über verzweifelte, perspektivlose Jugendliche.

 

Gegen Mittag ließ sie erschöpft ihre -- meine -- Hände sinken und starrte vor sich hin.

 

Hast du nicht gefunden, was du gesucht hast?, fragte ich sanft.

 

Sie schüttelte nur den Kopf.

 

Nein, aber ich habe ein vage Idee---

 

In dem Moment stürmte Feanor herein.

 

Er hatte Abschürfungen im Gesicht und sein T-Shirt war aufgerissen. Der Schulranzen hatte eine schräge Schlammecke, die mich an schokoladenglasiertes Gebäck erinnerte.

 

Ich sprang auf.

 

"Was ist passiert?", fragte ich ihn ängstlich.

 

"Ich habe mich geprügelt", spuckte er wütend aus. "Glaub' mir, die Zicke sieht nicht besser aus, als ich."

 

Ypey begann ein Grinsen, das ich nur mühsam unterdrückte.

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