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07. September


Y_sea

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Ich klingelte bei Linda.

 

Aus irgendeinem Grund war ich immer unsicher, wenn ich zu einer Verabredung kam. War ich zur richtigen Zeit gekommen? War es der richtige Tag?

 

Feanor spürte meine Unsicherheit. Maulig stand er hinter mir. Am liebsten wäre er gar nicht mitgekommen, aber ich wollte, dass er Richard besser kennenlernte.

 

Linda öffnete.

 

"Hedwig, schön, dass es geklappt hat!", begrüßte sie mich und meine Zweifel kamen mir - mal wieder - lächerlich vor.

 

Ich reichte ihr den Strauß Herbstblumen, die in dem Garten unseres neuen Hauses gewachsen waren, ohne dass ich dafür etwas getan hätte, orangefarbene Lilien und dunkelrote Stockrosen.

 

"Die sind aber schön!", gurrte Linda und suchte eine Vase.

 

Ich sah ihr hinterher, dann glitten meine Augen über die geräumige Diele. Der lackierte Parkettboden glänzte wie geleckt. Die Sonne fiel ungefiltert durch die Fenster, deren Scheiben so blank waren, als würden sie fehlen, und schien auf eine befreiende Leere. Das einzige Möbelstück im Flur war ein kleiner runder Tisch, auf dem das Telefon stand. Die offene Doppelflügeltür zum Wohnzimmer ließ nicht nur das Licht herein, sondern eröffnete auch den Blick auf einen extrem aufgeräumten Raum, lediglich ein schmales Bücherregal, eine lederne Sitzgruppe um einen Glastisch und ein kleiner Fernseher standen darin.

 

Ich zog meine Schuhe aus und zischte Feanor zu, er solle das auch tun.

 

Dann schlich ich an die Tür zum Wohnzimmer und fühlte mich unwohl, weil der Kontrast, den Lindas Wohnung zu meiner eigenen bildete, so reisig war. Und das lag nicht nur an den Umzugskartons.

 

Erleichtert entdeckte ich in einem Eckchen des Wohnzimmers doch noch etwas Unordnung. Eine bunte Babydecke mit einem Trapez und Plüschbausteinen. Und unter dem Trapez lag Kirsten.

 

"Hallo Feanor", sagte Richard schüchtern, der die Treppe im Flur herunter gekommen war.

 

"Hallo", erwiderte Feanor zurückhaltend.

 

"Hallo Richard", sagte ich und holte einen Anspitzer in Autoform aus meiner Tasche. Diesen gab ich ihm. "Feanor hat mir erzählt, dass du seinen Anspitzer toll fandest. Da habe ich dir auch einen besorgt."

 

"Danke Frau Schulz", strahlte Richard.

 

"Nenn mich Hedwig", erwiderte ich.

 

Linda kam aus der Küche und stellte eine farblich perfekt passende Vase auf den gläsernen Couchtisch, nickte in Richtung von Kirsten und sagte: "Noch bewegt sie sich zum Glück nicht vom Fleck. Dann wird es so stressig, auf alles aufzupassen. Ich hole uns den Kaffee und Kuchen hier her, ja? Hast du ein Auge auf Kirsten?"

 

"Klar."

 

Ich hatte eine andere Erfahrung gemacht. Ich war so froh gewesen, als Feanor angefangen hatte zu krabbeln. Da konnte er sich endlich mit sich selbst beschäftigen. Natürlich hatten wir in großem Aufwand die Küche, den Flur und ein weiteres Zimmer unserer damaligen Wohnung krabbelkinderfest gemacht, damit wir ihn die Umgebung in Ruhe erkunden lassen konnten.

 

Auch für Kirsten hatte ich etwas mitgebracht. Ein Plüschbuch mit Zeichnungen von Kuscheltieren. Feanor hatte es geliebt. So sah es auch aus. Ich betrachtete das Stoffbuch. Ich hatte es gewaschen, aber neu war es nicht mehr. Abgegriffen, etwas fleckig, nicht mehr ganz weich.

 

Ich sah mich um, sah die glänzenden Oberflächen und die staubfreien Ecken. Bis auf den frischen Milchfleck auf der Babydecke, war auch diese blitzblank. Wahrscheinlich wusch sie sie wöchentlich.

 

Missmutig schaute ich wieder auf das Plüschbuch und wusste nicht, ob ich es Kirsten geben sollte oder nicht. Also gab ich ihr erst eine nagelneu wirkende Rassel, die außerhalb ihrer Reichweite lag.

 

Linda kam und stellte ein Tablett voll Geschirr auf den Tisch.

 

Mit einem fröhlichen "Ich hole noch die Sahne" verschwand sie wieder.

 

Auch Linda selbst sah aus, wie frisch aus dem Ei gepellt.

 

"Richard, zeig Feanor doch mal dein Zimmer", hörte ich Linda im Flur zu den Jungen sagen.

 

Als sie die Treppe hinauf gingen, sah ich den ungleichen Kindern hinterher. Sogar ihr Sohn hatte stets eine perfekte Frisur, so dass Feanor mir schon etwas leid tat mit den selbst geschnittenen Haaren. Aber ich würde doch keine Paarundzwanzig Euro ausgeben, dafür dass ich Feanor bei seinem Wutanfall zuschauen durfte, wenn eine überforderte Frisöse versuchte, die Schere einzusetzen, ohne ihm in das wild bewegte Gesicht zu schneiden. Ich hatte es versucht. Einmal. Seitdem schnitt ich selbst.

 

Jetzt gib ihr endlich das Buch, sagte Ypey.

 

Ich nickte und hielt Kirsten das Buch hin. Sofort griff sie danach und führte es in den Mund. Dann juchzte sie, weil es lustig knisterte, als sie darauf herum kaute. Ich legte mich neben sie und zeigte auf die Seite des Buches, die sie sehen konnte.

 

"Ein Tiger", erklärte ich ihr.

 

"Gaa", machte Kirsten.

 

"Genau", sagte ich, "Ti-ger."

 

"Ga-a."

 

Ich freute mich, wie gut ihr das Buch gefiel.

 

"Oh, das ist ja ein schönes Buch, vielen Dank Hedwig. Das wäre doch nicht nötig gewesen."

 

Peinlich berührt stand ich wieder von der Babydecke auf.

 

Was sollte ich denn dazu sagen? Dass ich diese alten Baby-Sachen doch sowieso nicht mehr brauchte?

 

Pff, machte Ypey.

 

"Von diesen kleinen Sachen kann man doch immer wieder etwas Neues gebrauchen", meinte ich schließlich lahm.

 

Wir setzten uns an den Couchtisch und Linda schenke Kaffee ein und gab jeder von uns ein Stück selbstgebackenen Pflaumenkuchen.

 

Da kamen unsere Söhne herein.

 

"Mama, dürfen wir auch ein Stück Kuchen?", fragte Richard von der Tür aus.

 

Feanor, der schon am Tisch stand und seine Hand nach der Kuchenplatte ausgestreckt hatte, hielt inne und starrte Richard ungläubig an.

 

Oje, sind die unterschiedlich, dachte ich traurig.

 

Aber Ypey amüsierte sich.

 

Immerhin merkt er den Unterschied auch, freute sie sich.

 

Das ist nicht lustig, fand ich.

 

Doch, kicherte Ypey.

 

Sie war ja auch nicht verantwortlich für den kleinen Satansbraten.

 

Linda gab den beiden ein Stück Kuchen und von der Sahne und Apfelschorle. Nachdem sie gegessen hatten - Richard ordentlich und vorsichtig, Feanor so, dass die herunterfallenden Zwetschgen und Sahnekleckse Spuren auf seinem T-Shirt hinterließen - gingen sie in den Garten.

 

Ich atmete auf, als Feanor draußen war.

 

Linda und ich lächelten uns an und begannen, uns gesittet über die belanglosen Charakteristika unseres Lebens zu unterhalten.

 

Ich erkundigte mich nach ihrem Mann, nach Kirstens Entwicklungsschritten, wie lange sie hier schon wohnten.

 

"Was macht dein Mann, Hedwig?", fragte Linda dann mit diesem Gesichtsausdruck höflichen Interesses, denn die Menschen manchmal bekommen, wenn sie sehr bewusst nach Details aus deinem Leben fragen, weil sie dadurch glauben, dich besser kennenlernen zu können. Vermutlich hatte ich den gleichen Gesichtsausdruck vorher gehabt.

 

Jetzt gerade spielt er vermutlich Bundesliga Manager, dachte ich und sagte: "Er hat Anfang des Jahres in einer neuen Firma angefangen. Er ist da als IT Spezialist tätig und auch häufig unterwegs, um die Software der Firma zu betreuen, wo sie angewendet wird."

 

"Dann ist er oft weg?"

 

Lindas Stimme war ganz sanft, irgendwie regte mich das auf.

 

"Ja, es ist ja nicht so, als würde Feanor mich noch sehr viel ..." fordern? doch fordern tut er mich schon "brauchen", schloss ich also. Aber das war eigentlich auch falsch, brauchen tat er mich auch noch.

 

"Ist es anstrengend für dich, Hedwig, wenn Robin so viel weg ist?"

 

"Nein, nein, eigentlich nicht. Es war nur jetzt mit dem Umzug alles etwas viel. Ich..."

 

Ich brach ab. Mit minimalem Kopfschütteln nahm ich lieber eine Gabelvoll von dem süßen Zwetschgenkuchen. Linda hatte ihren Kopf schief gestellt und betrachtete mich mit einem nachdenklichen Lächeln. Ich hatte plötzlich ein Bild von Ypey in meinem Kopf, wie sie die Mimik von Linda kopierte. Du ...?, machte Ypey mit einer honigsüßen Imitation der Stimme meiner Nachbarin, Was wolltest du gerade noch sagen?

 

Ich hielt meine Augen auf dem Kuchen, damit Linda nicht eventuelle Gefühlsschwankungen unter meinen zuckenden Lidern mitbekam. Ich war irritiert von Ypeys heuchlerischer Sanftheit. Gleichzeitig hatte sie den Effekt, dass ich wirklich sagen wollte, was ich gerade nicht über die Lippen gebracht hatte. Wenigstens Ypey konnte ich es sagen.

 

Ich bin total ausgebrannt, dachte ich matt.

 

Warum sagst du ihr das nicht?, fragte Ypey, wieder in ihrem gewohnten Tonfall.

 

Ich sah kurz in Richtung der Treppe zum Kinderzimmer, dann hinaus in den Garten.

 

So etwas sagt man doch nicht, meinte ich unzufrieden, hin und her gerissen, irgendwie war mir das alles zu schal hier.

 

Linda schenkte Kaffee ein.

 

Ich lächelte sie fröhlich an.

 

Ypey grunzte verächtlich.

 

Ich bin die Diebin, kommentierte sie. Aber du! Du bist die Unehrlichkeit in Person.

 

Ich wurde von der Pflicht weiterzureden enthoben, als Richard und Feanor wieder herein kamen. Mein Sohn rannte mit seinen erdigen Schuhen in die Wohnung, bis ich ihn aufforderte, sie auszuziehen. Richard hatte seine schon ordentlich an die Seite gestellt.

 

"Können wir noch mehr Kuchen?", fragte Feanor, während er an seinen Schuhen zog ohne sie zu öffnen, da hörte ich das Wasser laufen, weil Richard sich schon im Badezimmer die Hände wusch.

 

"Geh auch erst mal Hände waschen", forderte Linda Feanor nett auf.

 

Feanor grunzte rebellisch.

 

"Nö", meinte er.

 

"Feanor, geh bitte Hände waschen", sagte ich. Vielleicht überhörte Linda die Panik in meiner Stimme, Feanor tat es nicht.

 

"Geh doch selber Hände waschen!"

 

"Feanor, wenn du noch ein Stück Kuchen essen willst, dann geh jetzt bitte Hände waschen!"

 

"So lecker ist der Kuchen auch nicht."

 

Ich schloss die Augen.

 

Warum tut er mir das an? Warum muss er mich so bloßstellen?, dachte ich verzweifelt.

 

Wie kommst du darauf, dass er das macht?. erwiderte Ypey.

 

Häh?

 

Er stellt dich nicht bloß, er macht nur, was ihm gerade passt. Ist doch toll. Guck ihn dir an. Er denkt selbst!

 

Mittlerweile sah Feanor seine Hände an. Ich hatte keine Ahnung, was sie da draußen gemacht hatten, aber es klebte eine dicke Schicht Sand an seinen Handinnenflächen. Er zuckte die Schultern und lief ins Badezimmer und wenig später hörte ich wieder den Wasserhahn.

 

Während sie also ihre zweiten Stücke Kuchen aßen, betrachtete ich die beiden nachdenklich.

 

Richard war seiner braven Frisur treu. Er war ein Engel. Ein richtiger Schatz. Er bedankte sich und sagte artig, wie lecker er den Kuchen fand.

 

Feanor war nicht seiner Frisur, sondern seinem Namen treu. Er war ein Feuergeist. Auch er zog sich bei uns mittlerweile die dreckigen Gummistiefel aus, wenn er herein kam, aber nur, um sie in hohem Bogen durch die Wohnküche zu werfen. Wenn er gut gelaunt war. Wenn er schlecht gelaunt war, zielte er auf mich. Er zeterte, wenn er Hände waschen sollte, und sparte nicht mit "Bäh!" und auf den Boden gepfefferten Butterbroten.

 

Ich liebte ihn.

 

Manchmal packte mich die Eifersucht, eine brennende Missgunst, dass andere Eltern ein 'einfaches' Kind hatten und ich ein so schwieriges, das bockte, sobald es ein Ge- oder Verbot witterte, was er eine Meile gegen den Wind tun konnte.

 

Aber immer, wenn dieser nagende Wurm der Eifersucht meine zarte Schale zu durchbrechen drohte, stoppte ich ihn, indem ich mir sagte, dass ich keinen dressierten Affen wollte.

 

Du hast schon recht, gestand ich Ypey zu. Es hat auch etwas Gutes, dass er so aufsässig ist. Schließlich habe ich seine Karriere schon geplant.

 

Ach. Und was wird er?

 

Revolutionär.

 

Die beiden trollten sich in Richards Zimmer und wieder schien mir die Luft plötzlich klarer und leichter einzuatmen zu sein.

 

"Du hattest gerade von deinem Umzug erzählt", nahm Linda den Faden wieder auf. "Es ist schwierig auszuhalten, wenn alles so unordentlich ist, nicht wahr?"

 

"Ach, so schlimm ist das gar nicht", antwortete ich. "Ich habe zehn Jahre in einer WG gewohnt, in der wir uns deutlich länger darüber auseinander gesetzt haben, wie wir denn nun den Putzplan organisieren, als tatsächlich zu putzen."

 

Linda wusste schon wieder nicht, ob ich scherzte oder nicht.

 

Aber ich war zufrieden. Das war ehrlich gewesen.

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