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  • Hilft es?


    Y_sea

    Die Geschichte spielt in Birkenfeld.

     


    Die Wolldecke war rauh und Ann juckte es an den bloßen Armen. Sie sehnte sich danach, aufzustehen. Aber obwohl ihre Großmutter schon neben ihr schnarchte, drangen auch von unten noch Geräusche an ihre Ohren. Holz schlug leicht auf Holz, als Anns Mutter die hohen Hocker auf die Theke stellte. Die dünnen Holzdielen ließen sogar das Zischen des Reisigbesens hören, mit dem sie das schlammige Stroh aus dem Schankraum fegte. Ann hatte ihr helfen wollen, aber Rana hatte sie schlafen geschickt. Hatte sie kaum ansehen können.

    Und so war Ann in die Dunkelheit des Dachbodens geflohen, wo ihre Großmutter schon schlief.

    Ann hörte die Hintertür knarren, als Rana das Stroh rausbrachte. Die Hühner hinterm Haus gurrten, als sie den Riegel des winzigen Stalls überprüfte. Ann fragte sich kurz, wie lange sie schon die Hühner nachts einsperrten, seit wann sie nicht mehr sicher waren. Waren es schon drei Jahre?

    Endlich schleppte sich Rana mit langsamen Schritten die steile Stiege hinauf. Ann machte lange, flache Atemzüge und rührte sich nicht.

    Als ihre Mutter sich neben sie legte, strich sie Ann übers Haar.

    "Oh, Ann", flüsterte sie liebevoll und Ann hatte Mühe, die Reglosigkeit beizubehalten. Wenn sie sich jetzt umdrehte, würde sie wie ein kleines Mädchen Trost bei ihrer Mutter finden. Und morgen wäre alles noch viel schlimmer, denn kleine Mädchen hatten Angst.

    Doch dann legte Rana sich zurück, seufzte und zog sich die Decke bis zu den Ohren.

    Es dauerte nie lange, bis Rana eingeschlafen war. Ann wusste das bereits. Ihre Mutter war ständig übernächtigt, so lange, wie sie nachts ausschenken und aufräumen musste. Das Leben ging im Morgengrauen los. Der Hahn des Hofes ein paar Häuser weiter liebte den Sonnenaufgang. Auch wenn sie gewöhnlich noch liegen blieben, wirklich schlafen, konnten sie nicht mehr. Ann machte dann lieber Frühstück, denn wenn sie morgens so tat, als schliefe sie noch, hörte sie statt Schnarchen Weinen.

    Als sie sicher war, dass ihre Mutter schlief, stand Ann leise auf. Sie schlich sich zu der Stiege und nahm ihren Umhang, den sie dort schon bereit gelegt hatte. Auf dem Weg nach unten stützte sie sich auf das Geländer, damit das Holz der Stufen nicht unter ihrem Gewicht knarrte. Dann schlüpfte sie zur besser geölten Vordertür hinaus.

    Ann stand einige Minuten auf dem Marktplatz und genoss die Weite des Himmels, die milchigen Sterne und den käsigen Mond. Der Wind rauschte in den Pappeln am Bach. Er trocknete auch ihre Augen, als sie ihn einlud, durch sie hindurch zu pusten. Ann genoss die Geräusche der Tiere, das Rascheln und Gurren, von Ferne ein Muhen. So wusste sie, dass sie nicht ganz alleine war, alleine in der Nacht.

    Sie hockte sich hin und griff nach einem Stein, der auf dem gepflasterten Marktplatz lag. Es war ein aufgesplitterter Flussstein, auf der einen Seite rund geschliffen und blass, auf der anderen kantig und dunkel. Sie wog ihn in der Hand. Er war gut.

    Damit machte sie sich auf die Pirsch.

    Ihr Lieblingsziel war die Laterne vor dem Gasthaus gewesen. Nicht, weil es eine Konkurrenz zu der Schenke ihrer Mutter darstellte. Bestimmt nicht. Im Gegenteil. Orlon war immer nett zu ihnen gewesen. Und Madock, Orlons Neffe, hatte Ann schon fast gefragt, ob sie sich mit ihm verloben würde. Und Ann hatte fast zugestimmt. Geschichten von großer Liebe waren Betrug. Vor ein paar Jahren noch, hatte sie geglaubt, sie müsse sich nur zwischen Friors leuchtenden Augen und Baldreds schelmischem Lächeln entscheiden. Jetzt war das nebensächlich. Es ging darum, ob man füreinander sorgen konnte. Es ging ums Überleben. Weiter nichts. Und auch Friors Augen leuchteten nicht mehr, seit er vor drei Jahren aus der Mine zurück gekommen war. Und Baldreds Lächeln war zittrig, seit seine Mutter im letzten Jahr zu schwach und hungrig gewesen war, um eine Lungenentzündung zu überstehen.

    Ann hielt die Faust mit dem Stein vor ihren Unterleib, starrte in Richtung der zerstörten Laterne und fragte sich, was Madock sagen würde, wenn er den Syre heute gesehen hätte. Heute abend war er mit einigen seiner Offiziere in der Schenke gewesen, hatte getrunken und schlechte Witze gegrölt. Und seine Augen hatten sich auf Ann gelegt. Nicht nur seine Augen. Diesmal war sie noch davon gekommen. Er hatte sie noch nicht gezwungen, mitzukommen.

    Orlon hatte die Laterne seit dem letzten Mal nicht repariert. Hatte es offenbar aufgegeben. Glas war teuer. Ann zuckte jedesmal zusammen, wenn sie abends die zu helle Seite sah.

    Überleben schien ihr plötzlich zu viel verlangt. Darüber hatte sie keine Kontrolle. Sie steckte ihre Ziele kleiner.

    Sie schlich zu Randals Bauernhof. Die Laterne dort hing vor dem Eingang zum Haupthaus und erhellte abends den engen Hof. Jetzt brannte sie natürlich nicht mehr und konnte Ann nicht verraten, als sie sich durch das Gattertor zwängte. Manchmal wünschte Ann, die Laternen würden noch brennen.

    Gruru, machte ein Huhn.

    Ann blieb regungslos stehen. Randal hatte auch Gänse. Wenn die Alarm schlugen, müsste sie sich schnellstens verdrücken. Aber die hellgrauen Flecken auf der Wiese nahe am Fluss lagen still. Sie schliefen mit dem Kopf zwischen den Federn. Schlafend hatten die Vögel wieder die Form von Eiern.

    Ann kämpfte gegen den Impuls, ihren Stein auf ein schlafendes Tier zu werfen. Dafür war sie nicht gekommen.

    Kräftig schlossen sich ihre Finger um den Stein. Die Kante drückte sich in ihre Handfläche. Sie wollte jeden kleinen Riss und jede Erhebung fühlen. So dunkel und hart. Ohne zu blinzeln blickten ihre Augen dann auf die längst gelöschte Laterne. Nur der Mond spiegelte sich in dem rauhen Glas, das leicht schräg in seiner Fassung hing und wartete.

    Der Stein flog. Als das Glas in klirrenden Scherben auf den Boden fiel, hockte Ann sich hinter die Ecke der Scheune und weinte.

    Niemand kam heraus. Und auch die Gänse gaben ihr keinen Grund zum Fliehen.

    So weinte sie, bis es still in ihr wurde.

    Und wieder waren es nur die Geräusche des Winds und des Bachs und das Rascheln der Hühner, die ihr sagten, dass sie nicht alleine war.

    Die Hühner wurden unruhiger. Ann sah in den Himmel und suchte nach Zeichen des grauenden Morgens.

    Das Flattern von Federn und ein angstvolles Gurren ließen sie misstrauisch aufhorchen.

    Dann versiegte der Laut plötzlich.

    Ann nahm einen weiteren Stein wahllos vom Boden des Hofes und trat um die Ecke der Scheune herum, den Fuchs zu vertreiben. Aber es war gar kein Fuchs.

    Frior stand einsam auf dem Hof, in der einen Hand den Hals des Huhns, das schlaff herunter hing. In der anderen Hand dessen verdrehten Kopf.

    Stumm sahen sie sich an. Ann suchte in seinen Augen nach dem Leuchten aus ihrer Kindheit. Sie sah aber nur das Glitzern des Mondlichts.

    "Hilft es?", fragte sie ihn leise.

    Er schüttelte den Kopf. Das Glitzern wanderte über sein Gesicht.

    "Willst du mich küssen?", fragte sie weiter.

    Frior ließ das Huhn fallen.

    "Hilft denn das?", flüsterte er.

    Ann zuckte die Schultern und war sich ziemlich sicher, dass die Antwort darauf "Nein" war.


    Benutzer-Feedback

    Empfohlene Kommentare

    Hallo Y_Sea,

     

    eine sehr ernüchternde Geschichte. Ich meine nicht den Schreibstil - der ist wie immer richtig klasse! - sondern das, was sie vermittelt.

    Dir ist es wirklich gut gelungen, die Hoffnungslosigkeit dieser einfachen Leute für mich als Leser fassbar zu machen.

     

    Wow, der Nachhall ist zermürbend...

     

    Schreib' weiter solche Kurzgeschichten - du bist echt gut!

     

    LG Anjanka

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    Hi Kyilye und alle anderen, die es interessiert,

     

    danke für das Lob und die Nachfrage. "Fünf Monate mit Ypey" wird sich einer grundlegenden Überdenkung unterziehen müssen. Im Prinzip würde ich es schon noch weiter schreiben wollen, ich weiß auch ziemlich genau, was in Kapitel 3 und 4 geschieht, ABER das Kapitel 5 ... also jedes Ende, das mir einfällt, ist entweder total kitschig, kein richtiges Ende oder einfach nur unbefriedigend. Ich habe eine Ahnung, woran das liegt. ;) Jedenfalls ist die Zeit für das richtige Ende noch nicht reif. Und ich schreibe es erst weiter, wenn es soweit ist.

     

    Stattdessen schreibe ich ja an anderen Romanen. Und nachdem ich letztens einen Kurs absolviert habe, wie man aus einem eigenen Roman-Manuskript ein vernünftiges Buch macht (meine Kurskritik), habe ich tatsächlich ein Expose für einen 100.000-Wörter Fantasy Roman an ein paar Verlage geschickt.

     

    Aber ich weiß natürlich, wie schwer das ist, einen Verlag dazu zu kriegen, das Manuskript von einem nobody anzunehmen. Trotzdem. Ich will das wirklich. Und ich merke, wie ich von Mal zu Mal besser werde. Wenn es nicht mit diesem klappt, dann mit dem nächsten oder übernächsten. Drückt mir die Daumen.

     

    Gruß,

    Y_sea

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