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20. September


Y_sea

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Linda stand mit Mann und Kindern an der Tür des Gartenzauns. Sie hatte einen Salat dabei, obwohl ich ihr gesagt hatte, dass das nicht nötig wäre.

 

"Hallo, kommt rein!", rief ich ihr zu, weil ich noch dabei war, die Würstchen auf dem Grill zu wenden. Endlich veranstalteten wir unsere Einweihungsparty und hatten sogar schönes Wetter dafür.

 

Als alle Würstchen versorgt waren, hängte ich den Rost etwas höher, damit ich mich kurz um Linda kümmern konnte. Sie war diejenige, die die wenigsten Leute hier kannte. Ich bedankte mich artig für den Salat und stellte ihn auf das Buffet. Als ich mich umdrehte, sah ich, wie sie Feanor ein Geschenk in die Hand drückte. Es war sogar eingepackt, als hätte er Geburtstag.

 

Feanor riss das gelbe Papier auf, ließ die Fetzen achtlos fallen und beförderte ein Buch ans Tageslicht.

 

Es war ebenfalls gelb. Ich ahnte es schon, bevor ich mich wieder dazu gesellt hatte. Ich hasste das Bild, besonders die langen Fingernägel.

 

Der Struwwelpeter.

 

"Danke, Linda!", rief mein Sohn, der Bücher wirklich gerne mochte.

 

Ich hätte mich gerne über sein "Danke" gefreut. Wann tat er das schon mal?

 

Aber der Struwwelpeter?!, dachte ich verzweifelt und heischte bei Ypey um Zustimmung.

 

Was ist so schlimm daran?, wollte sie wissen.

 

Ich dachte, über diese Art der Erziehung wäre die Menschheit weg.

 

Aber Ypey fand es lustig.

 

Ich weiß nicht, wie gut ich hätte lügen können. Aber zum Glück musste ich nichts zu Linda sagen, denn in diesem Moment erschienen meine Rollenspiel-Kumpels am Gartenzaun.

 

Ich umarmte Tarek und flüsterte ihm zu: "Du hast gerade mein Leben gerettet."

 

Er schmunzelte nur und ich begrüßte auch Sebastian und Tobi.

 

Dann eilte ich wieder an den Grill und stapelte die fertigen Würstchen auf einen Teller. Ich nahm mir Zeit, legte sie sorgfältig nebeneinander, baute eine perfekte Pyramide. Viel ruhiger schlenderte ich mit dem Würstchenteller durch den Garten und bot sie meinen Gästen an, als wären es Canapes.

 

"Und was machen Sie, Tarek?", hörte ich Linda fragen.

 

Na, da haben sich ja zwei gefunden, dachte ich und betrachtete das ungleiche Paar. Mein Spielleiter war groß und schlacksig, mit wilden, lockigen Haaren und Bart, mit zerrissener Jeans und Holzfällerhemd, an dem er einen Button mit fünfstrahligem, roten Stern trug. Er lehnte an der Wand neben dem Küchenfenster und drückte gerade eine selbstgedrehte Zigarette in den Aschenbecher, der auf dem Fenstersims stand.

 

"Ich unterhalte mich gerade mit Ihnen, Linda", grinste er und prostete ihr zu, bevor er einen langen Schluck aus seiner Bierflasche nahm.

 

Fasziniert, sah ich weiter zu.

 

"Ich meinte, was machen Sie beruflich?", ließ sich Linda nicht beirren.

 

"Ich studiere", erwiderte Tarek, an dem seine fast vierzig Jahre deutliche Spuren hinterlassen hatten. Vielleicht waren es nicht so sehr die Jahre, sondern der Alkohol und die Zigaretten und die Pizza beim Rollenspielen und die zu vielen durchwachten Nächte, die ihre Spuren da gezeichnet hatten.

 

"Was studieren Sie denn?"

 

"Philosophie."

 

"Interessant, was macht man denn damit, wenn man fertig ist?"

 

"Philosophieren?", erwiderte Tarek. Da sah er mich, sah, wie ich meine Augen rollte und den Kopf schüttelte.

 

Er räusperte sich also und fuhr etwas gesprächiger fort: "Naja, vielleicht auch Taxifahren. Es hat tatsächlich nicht so gute Jobchancen im Angebot. Aber darum studiere ich ja auch nicht. Ich studiere, weil ich durch Bildung Selbstentfaltung erreichen will. Ich denke über mich und die Welt nach und wenn ich lese, was andere Menschen über sich und die Welt gedacht haben, dann hilft es mir, meine Situation besser zu verstehen. Und ich bin ganz froh, wenn ich noch eine Weile der kapitalistischen Reproduktionsmaschinerie entkomme, indem ich eben keinen Job habe, der mich ja doch nur kaputt macht, weil er verhindert, dass ich Zeit und Muße zum Nachdenken habe. Weil das System davon lebt, dass die Menschen vom Reflektieren ihrer beschissenen Situation abgehalten werden."

 

Tarek lächelte mich an und zog die Augenbrauen hoch.

 

'Besser?', formten seine Lippen.

 

Ich machte einen Schritt auf die beiden zu, hielt ihnen den Teller unter die Nasen und sagte: "Würstchen? - Ach, die Tofuwürstchen und Gemüsespieße sind auch schon fertig, Tarek. Der vegetarische Teller steht auf dem Gartentisch."

 

"Danke", sagte er mit angewidertem Blick auf den Teller in meiner Hand. Dann schlenderte er gelassen mit der Bierflasche zwischen Zeige- und Mittelfinger hängend an das andere Ende der Terasse.

 

Linda und ich sahen ihm hinterher.

 

"Interessante Freunde hast du", sagte Linda.

 

"Freunde", Linda? Ich denke genauso wie er. Ich bin genauso wie er.

 

Du warst genauso wie er, korrigierte mich Ypey und ich wurde plötzlich leer und traurig, weil ich wusste, dass sie recht hatte. Mit Feanors Geburt war es schlagartig wichtig geworden, Teil der Gesellschaft zu sein.

 

Ich seufzte.

 

"Du konntest nicht so viel mit ihm anfangen, was?", fragte ich Linda.

 

"Naja", gab sie zu. "Ich habe nur die Hälfte verstanden, von dem, was er erzählt hat. Aber vielleicht ist es das, was ihn interessant macht. Als käme er aus einer anderen Welt."

 

Hi hi, kicherte Ypey. Die beiden sind tatsächlich wie aus zwei verschiedenen Welten. Und weißt du was, Hedwig? Du bist in beiden Welten zuhause. Nein, stimmt gar nicht. Du bist in beiden Welten nicht zuhause.

5 Kommentare


Empfohlene Kommentare

Gemäß einer uralten Theorie aus HACK, einem Computer-Adventure aus der Computersteinzeit als es noch keine Grafik gab, kann man die Attribute eines Wesens erwerben, indem man es aufisst.

Saidon ist also immer fröhlich...

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