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06. Oktober


Y_sea

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Montags morgens war es immer am schwierigsten. Ich brauchte Stunden, bis ich mich soweit in meine hundert Klassen vertieft hatte, dass mir wieder klar war, wo was passierte, und ich weiter an dem Punkt arbeiten konnte, an dem ich Freitag aufgehört hatte.

 

Endlich hatte ich das Tool zur Auswertung der Daten fertig gestellt. Es lieferte mir die Zahlenreihen jetzt als farbige Kurven aufbereitet, so dass ich auf den ersten Blick die qualitativen Unterschiede zwischen den Modellläufen erkennen konnte. Zumindest war das der Plan. Ich ließ das Modell laufen.

 

Cool, lauter roter Text. Soll das?, fragte Ypey.

 

Scheiße.

 

Gleich im ersten Schritt war die Exception gekommen. Natürlich sollte es das nicht und Ypey wusste das auch.

 

Warum tust du dir das an?, fragte sie.

 

Das habe ich dir schon gesagt, erwiderte ich grantig.

 

Dann habe ich es offensichtlich nicht verstanden, gab sie unbekümmert zu.

 

Willst du übernehmen und den Fehler beheben?, giftete ich sie an.

 

Lass mal.

 

Ich öffnete das Modul, das die Daten verwaltete.

 

Aber, fuhr Ypey nachdenklich fort. Ich habe schon gedacht, dass es mich auch mal interessieren würde, etwas Magie zu lernen.

 

Ich verdrehte die Augen und ignorierte sie. Da war der Fehler auch schon. Ich hatte vergessen zu testen, ob schon Daten eines vorhergehenden Schrittes existierten, was im ersten Modellschritt natürlich nicht der Fall war.

 

Das Modell brauchte ein, zwei Minuten um durchzulaufen und malte in dieser Zeit die bunten Linien langsam länger.

 

Zeit genug auf Ypeys Frage zu antworten.

 

Ich brauche Geld, um mir Dinge kaufen zu können. Essen, Miete, Klamotten, Spielzeug für Feanor. Das Geld kriege ich nicht geschenkt. Dafür habe ich einen Job. Ich programmiere für ein internationales wissenschaftliches Projekt. Außerdem will ich unabhängig sein.

 

Unabhängig? Wie bist du unabhängig, wenn du die Drecksarbeit für ein internationales Projekt machst.

 

Das ist nicht die Drecksarbeit, protestierte ich. Es ist eine gut bezahlte, anspruchsvolle, erfüllende Tätigkeit.

 

Warum klingst du dann so trotzig?, hakte sie nach.

 

Es macht halt gerade keinen Spaß.

 

Aber normalerweise tut es das?

 

Unterschiedlich. Mal mehr, mal weniger.

 

Ich änderte die Modellparameter und ließ es wieder laufen.

 

Wann hat es das letzte Mal Spaß gemacht? Ypey ließ nicht locker.

 

Ich seufzte.

 

Mein Kollege Florian sah auf und bedachte mich mit einem prüfenden Blick. Ich räusperte mich und machte eine vage Handbewegung in Richtung meines Bildschirms, auf dem der langsame Fortschritt des Modells wiederum, diesmal andere, bunte Linien zeichnete.

 

Wei"s nicht. Letztes Jahr auf dieser einen Konferenz waren ganz nette Leute.

 

Ypey lachte. Gehässig war es diesmal.

 

Gut, gut. Du hast also vor einem Jahr mal ganz nette Leute kennengelernt. Toller "Job"!, lästerte sie.

 

Ich lehnte mich zurück und starrte auf den Bildschirm. Der Modelllauf war längst fertig. Aber ich rührte die Maus nicht an. Der erwartete Abfall in der Kurve, die den Ertrag zeigte, war bei diesem Parametersatz deutlich zu erkennen, aber darüber dachte ich nicht nach.

 

Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte mich das Ergebnis eines Modelllaufes mit einer gewissen Genugtuung erfüllt. Der Experimentiergeist eines Kindes traf sich mit der Befriedigung, etwas durchschaut zu haben. Ausprobieren, erkennen, durchschauen, abstrahieren, verstehen. Erklären. Es hatte mich begeistert, einer Frage auf den Grund zu gehen. Irgendeiner Frage. Jeder Frage. Es hatte mich begeistert, objektorientierten Code zu entwickeln, zu gestalten. Wann hatte das aufgehört?

 

Du hast recht, gab ich zu. Es wäre wundervoll, mal eine Zeitlang aufzuhören.

 

Und woher bekommen wir dann das Geld?, fragte Ypey, als ob sie nicht damit angefangen hätte.

 

Mit seinem neuen Job verdient Robin ja mehr, meinte ich. Eigentlich reicht es, was er verdient.

 

Worauf wartest du dann?, machte Ypey völlig entgeistert.

 

Das ist keine so leichte Entscheidung, dachte ich verstört. Das will gut überlegt werden. Ich kann auch nicht so einfach kündigen. Und wenn ich nach ein paar Wochen feststelle, dass ich in den Job zurück will, geht das auch nicht so leicht. Und außerdem macht es sich nicht gut, eine Lücke im Lebenslauf zu haben. Und niemand hier kann das übernehmen, was ich mache. Das kann niemand anderes.

 

Ich stützte meine Ellenbogen auf und legte meinen Kopf in die Hände. Kurz war eine Flamme in mir aufgelodert, der Wunsch nach Freiheit versengte mein Inneres. Aber die Eisenstäbe des Käfigs waren schwarz und real. So ging das nicht. Ich musste arbeiten. Außerdem wollte ich doch keine Hausfrau sein.

 

Kannst du nicht auch ein Jahr Elternzeit machen?, fragte Ypey. Du hast doch auch ein Kind.

 

Ja, aber das geht doch nur direkt nach der Geburt \dots

 

Und im ersten Schuljahr.

 

Das habe ich gehört, kommentierte Ypey fröhlich.

 

Ich könnte Elternzeit nehmen. Mir wurde ganz kalt.

 

Als die anderen zur Mittagspause gingen, konfrontierte ich meinen Chef.

 

"Wilhelm, ich möchte Elternzeit nehmen", fing ich ohne Umschweife an.

 

"Was?", sagte er entsetzt.

 

"Feanor ist in die Schule gekommen und ich merke, wie sehr das unseren Alltag durcheinander bringt. Wir sind gerade erst umgezogen und er braucht mich jetzt mehr als die letzten Jahre."

 

"Na gut, Hedwig. Ich will dir da nicht im Wege stehen. Kann Julia dein Modell übernehmen?"

 

Ich war unglaublich erleichtert und fühlte mein Herz plötzlich wieder schlagen. Er schien es nicht so schwer zu nehmen, wie ich angenommen hatte. Ich atmete spürbar auf und merkte erst, wie sehr ich seit dem Vormittag darum gezittert hatte, ob dieser Plan sich tatsächlich in die Tat umsetzen ließe.

 

"Ich werde sie noch einarbeiten", sagte ich mit pochendem Herzen. Eigentlich wollte ich nicht, dass Wilhelm sah, wie wichtig es mir war, von hier weg zu kommen. "Ich nehme mir ab dem nächsten Monat Elternzeit und ab nächster Woche noch meinen Urlaub."

 

Ein bisschen war ich selbst überrascht davon, dass der Plan fertig in meinem Kopf war.

 

"Danke, Wilhelm."

 

"Hedwig?", rief er mich noch einmal zurück.

 

"Ja?" Was jetzt? Panik machte sich breit, aber Ypey beherrschte das Feuer, das meine Finger auf der Türklinke vibrieren ließ.

 

"Hedwig, das Projekt läuft Ende nächsten Jahres aus. Ich kann dir nicht zusagen, dass ich dich darüber hinaus weiter beschäftigen kann, obwohl du einen Anspruch darauf hast."

 

"Ich weiß", sagte ich schnell.

 

Große Brocken fielen aus dem Plan, den ich jetzt irgendwie wieder kitten musste.

 

Wir hatten dieses Thema etliche Male durchgekaut, wann immer eine Kollegin ein Kind bekam und in Elternzeit ging, einmal auch bei einem Kollegen. Es passte einfach nicht mit der Art zusammen, wie an den Unis in Vierjahresprojekten gedacht wurde. Eigentlich sollte die Uni Geld für genau diese Fälle vorhalten, aber die chronisch unterfinanzierten Einrichtungen versuchten sich darum herum zu drücken, wo immer es ging.

 

"Ich verzichte auf diesen Anspruch", sagte ich also, um zu verhindern, dass er mir untersagte, Elternzeit zu nehmen. Im ersten Schuljahr ging es nur mit seinem Einverständnis.

 

Ohne Mittagessen besorgte ich mir das entsprechende Formular aus der Verwaltung. Es war ein ganz kurzes, nur zwei Seiten.

 

Beim Ausfüllen schaute Ypey entgeistert zu.

 

Warum reicht es nicht, dich von deinem Chef abzumelden?

 

Ich merkte förmlich, wie die vielen geraden Linien, Felder mit Markierungen für Druckbuchstaben, kleingedruckte Anweisungen und mehrere Seiten Erklärungen sie fast einschüchterten. Fast. Sie ließ es schlicht nicht zu. Ypey hatte vor nichts Angst. Es hatte einen Effekt auf sie, aber der war abgestoßen trotzig und nicht etwa ängstlich folgsam.

 

So wie ich. Ich hatte immer eine panische Angst, etwas falsch zu machen, wenn ich so ein Formular vor mir hatte. Ich hielt mich nicht für dumm. Aber diese Sprache hatte ich einfach nie gelernt. Und die Vokabeln vergaß ich immer sofort wieder. "Anrechnungszeiten", "RV-Nr", ich nahm an, das war die Rentenversicherungsnummer. Wo sollte ich die denn finden? "Beziehen Sie Kindergeld?" Ja. Ach, ne. Das kriegt ja Robin. Also nein? Aber das ist doch auch falsch \dots

 

Ich bin ja nicht bei ihm angestellt, sondern bei der Uni, erklärte ich. Das muss alles seine Richtigkeit haben, der Kranken- und Rentenversicherung gemeldet werden.

 

Machen die die Hürde extra so hoch, damit nicht so viele Menschen Elternzeit nehmen?, fragte Ypey.

 

Ich grunzte.

 

Ehrlich gesagt glaube ich das nicht. Es ist halt so kompliziert geworden. Das Leben.

 

Pff, macht Ypey. Das Leben ist nicht kompliziert. Das da ist nicht "das Leben".

 

Irgendwie gab ich ihr recht.

 

Dann kniff ich die Augen zusammen, denn ich war an einen Punkt in dem Formular gekommen, der mich wieder völlig aus der Bahn warf.

 

"Unterschrift des Ehepartners"

 

Vier Stunden waren vergangen, seit Ypey mich auf die Idee gebracht hatte, Elternzeit zu nehmen.

 

Keinen einzigen Gedanken hatte ich bisher dafür übrig gehabt, was Robin davon halten würde.

 

Ich muss es mit ihm besprechen, dachte ich matt und mein Hals wurde eng bei dem Gedanken daran, ihm erklären zu müssen, warum ich das wollte. Ich kann den Antrag erst einreichen, wenn ich mit ihm darüber gesprochen habe.

 

Papperlapapp!, sagte Ypey, plötzlich extrem fröhlich.

 

Sie griff nach meiner Hand, mit meiner Hand nach dem Kugelschreiber und schmierte vor meinen fassungslosen Augen Robins Unterschrift auf das Formular. Es sah unglaublich echt aus. Wenn ich nicht meiner Hand beim Schreiben zugesehen hätte, hätte ich es für seine Unterschrift gehalten. Natürlich war ich kein Profi in solchen Sachen.

 

Aber ich, grinste Ypey.

 

Der Kugelschreiber fiel mir aus der Hand und machte einen dünnen blauen Strich an den Rand des rosa-weißen Formularblattes.

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Es gibt nur eine Sache, die schlimmer ist, als die finanzielle Verantwortung für die Familie ohne Not auf den Schultern des Partners abzuladen ohne ihn zu fragen: Ihn nicht zu fragen und seine Unterschrift zu fälschen...

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