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  • Ein Monster im Wald - Beitrag zum Thema des Monats Mai 2014


    Brandon Thorne

    Etwa zwei Wegstunden nördlich des namenlosen Dorfes entfernt, inmitten einer kleinen Lichtung im tiefen finsteren Wald, findet sich seltsamer Haufen von Steinen. Ob nun natürlichen Ursprungs oder doch kunstvoll aufgerichtet, weisen diese Steinen ganz klar die Form eines am Boden hockenden Ogers auf. Man könnte nun an eine Laune der Natur glauben. Andererseits kann man dort, wo sich das Maul und die Hände befinden deutlich ein Farbänderung am Stein beobachten: Die rostige Farbe könnte man mit etwas Fantasie durchaus für Blut halten. Ein öfters vorbeikommender Besucher wird in dieser Annahme wohl bestärkt werden, sind diese „Farbflecken“ doch an manchen Tagen deutlich intensiver als an anderen. Wiederum sind sie nach starkem Regen gar nicht mehr zu finden. Oftmals sollen in der Umgebung seltsame Geräusche gehört worden sein: lautes Krachen, schrilles Pfeifen oder tiefes Grunzen. Und letzten Endes könnte ein begabter Waldläufer feststellen, dass nach so manchen Nächten – bevorzugt nach Vollmond – Ogerspuren von den Steinen weg und auch wieder hinführen.

     

    Schon seit ewigen Zeiten dürfte sich dieses Steingebilde schon hier befinden und seit Menschengedenken ist der hockende Oger in dem mehr oder weniger nahe liegenden Dorf Gesprächsthema. Vor allem bei den Kindern.

     

    „Wenn du wirklich beweisen willst, dass du mutig genug bist, dann weiß ich genau das Richtige für dich!“

     

    Dieser Satz wird – begleitet von einem hämischen Grinsen – meist von einem halbstarken Kind ausgesprochen, das ein viertelstarkes Kind provozieren will. Meist reichen fantasievolle Schilderung über das kinderverschlingende Monster im tiefen Wald, das nur bei Vollmond erwacht, völlig aus, um dem großen Maulhelden in Erinnerung zu rufen, was er nicht alles noch zu tun hätten: das Vieh füttern, die Großmutter besuchen (die, die nicht im Wald wohnt), schlafen gehen.

    Doch manches Mal entschließt sich doch ein Kind allen Erzählungen zum Trotz den Marsch zu wagen und in der nächsten Vollmondnacht findet sich eine Horde Kinder am Waldrand ein die zumindest beim Abmarsch dabei sein wollen. Für die älteren Kinder bedeutet dies nun, dass auch sie sich in den Wald wagen müssen: ohne dass der mutige Forscher (oder die mutige Forscherin) es bemerken kann, müssen sie noch vor diesem beim „Oger des Todes“ ankommen und die Lichtung umzingeln. Bewaffnet mit Stöcken, Trillerpfeifen und ihren Stimmen warten sie auf das Erscheinen des Opfers. Sobald es in die Nähe des Ogers kommt lassen sie eine Lärmkaskade schrecklichsten Ausmaßes los und erfreuen sich am Schreien und Davonlaufen des nun nicht mehr ganz so mutigen Waldwanderers. Ja, Kinder sind grausam.

     

    Etwa zwei Ogerwegstunden nördlich von dem Steingebilde lebt seit Generationen eine Ogersippe. Auch sie kennen diesen Steinoger auf der Lichtung, den sie für einen schrecklichen Urahnen von ihnen halten. Sie wissen, dass es an manchen Vollmondnächten sein kann, dass ihr vor langer Zeit schlafen gegangener Verwandter aufwacht und schrecklich zu wüten beginnt. Deswegen ist es besser, sich in diesen Nächten nicht in der Nähe dieser Lichtung aufzuhalten. In sicherer Entfernung lauscht einer der Sippe in die Nacht hinein und sollte der Ahn erwacht sein, dann stattet einer der Oger am darauf folgenden Tag den nun wieder schlummernden Steinoger mit einem Eimer Blut einen Besuch ab und beschmiert dessen Maul und Hände mit dem schmackhaften Saft oder legt gar noch ein Stück Fleisch dazu. So können sie sicher sein, dass ihr Verwandter seinen Schlaf in Ruhe fortsetzen kann.

     

    Nun, egal was Mensch oder Oger von den Steinen im Wald halten: weder leben, noch bewegen sie sich, sie sind nun einmal genau das, was sie sein wollen: ein Haufen toter Steine, die zufälligerweise wie ein am Boden hockendender Oger aussehen. Und eines sind sie mit Sicherheit nicht: Ein Monster.


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