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  • Tal des Jammers


    Y_sea

    Hallo,

     

    mal wieder eine Kurzgeschichte von mir. Diese ist inspiriert vom Tal des Jammers (Thalassa-Band S. 26).

     

    Gruß,

    Y_sea

     


     

    Tal des Jammers

     

    Die Säule aus bleichem Stein wuchs aus ebenso ausgeblichener Erde. Tiefe Riefen zogen sich lotrecht von unten nach oben. Die Sonne wanderte auf den weißen, mein Blick aber folgte den dunklen Linien aufwärts. Bis zu der Plattform.

    Der Preis.

    “Das Einzige, das ich bedauere, ist, dass du dich diesen Strapazen aussetzt, Leandra”, sagte ich fest.

    “Hör auf mich zu bemuttern!”, sagte sie lachend. Lachend. So wie ich sie in Erinnerung behalten will. Oder war es doch

    ein wenig gezwungen, das Lachen? “Wann geht endlich in deinen Kopf, dass du mein großer Bruder bist? Nicht mein Vater!”

    Über der Plattform strahlte heller Himmel. Die Säule stand in einer Schlucht. Die Sonne würde nur wenige Stunden am Tag so brennen wie jetzt. Trotzdem. Die Schlucht hieß nicht umsonst das Tal des Jammers.

    “Schon gut”, meinte ich, ohne sie anzusehen. “Aber du hättest nicht mitkommen müssen.”

    “Eben”, erwiderte sie. “Ich wollte mitkommen. Deine Schüler hätten dich auch ohne mich versorgen können. Ich will hier sein.”

    Ihre Hand auf meinem Arm löste den Bann, mit dem die Plattform meinen Blick gefangen gehalten hatte.

    “Es sind zwei Monde”, sagte sie. “Zwei Monde, in denen ich von dir lernen kann.”

    Ihre Augen waren so dunkel wie ein Weiher im Sternenlicht.

    “Du hast uns alle inspiriert. Nicht nur deine Schüler.”

    Die drei Schüler warteten in respektvollem Abstand darauf, dass sie etwas für mich tun konnten.

    “Felakles der Metzger, Zyphani die Schreiberin, selbst Rylaos der Küchenjunge. In Kroisos haben mir Hunderte gesagt, dass sie erst durch deine Worte begriffen haben, was ihr Glaube bedeutet.”

    Sie hatte sich feurig geredet. Aussagen wie diese hatten mir die Stafe beschert. Prior Laurelius, der uns begleitete, war nirgends zu sehen. Er würde mich gleich dort oben auf der Plattform anketten. Zwei Monde.

    “Dass sie erst durch dich einen Sinn gefunden haben.”

    Der Preis.

    Ich war bereit, den Preis zu zahlen, den der Abt mir auferlegt hat. Heretische Reden, hatte er gesagt. Aufwiegelung. Ketzerei. Dabei war es nie Wredelin gewesen, gegen den ich rebelliert hatte. Wie kann es gotteslästerlich sein, wenn ich darlege, dass die Praktiken meines Ordens nicht im Sinne der Lehren Wredelins sind?

    Vor der Askese hatte ich keine Angst.

    “Und wenn du zurück kehrst, dann wird dein Einfluss noch größer geworden sein. Du bist schon fast ein Heiliger.”

    Endlich lächelte ich meine Schwester an. Für sie war es ein Abenteuer. Ich wusste jetzt, warum sie mitgekommen war. Jetzt konnte ich auf die Plattform steigen. Aber der Prior war nirgends zu sehen. War er nicht vorhin hinter dem Busch verschwunden? Vermutlich trat er aus. Ich sah auf den Dornginster, dessen lange Äste mit gelben Blüten übersäht waren.

    “Wir werden dich gut versorgen, Bruder”, sagte Leandra. Bruder. So nannten mich meine Schüler auch.

    Sie würden mich gut versorgen, da hatte ich keinen Zweifel. Sie würden mir den anregenden Tee aus Ginsterzweigen machen, während ich hilflos auf der Plattform saß.

    “Und wir werden deinen Lehren lauschen.”

    Sie würden mir den süßen Saft aus Granatäpfeln bringen.

    Bewegung hinter dem Ginster. Metallenes Aufblitzen.

    “Runter!”, schrie ich und stieß Leandra zur Seite.

    Der Armbrustbolzen traf mich in die Schulter und ich prallte gegen die Säule.

    Leandra sprang sofort wieder auf und zog ihr Kurzschwert. Doch da kamen schon zwei Männer mit gezogenen Waffen auf sie zu. Riesenhaft Männer groß wie Ochsen. Ihre Oberkörper waren bis auf zwei sich kreuzende Lederbänder nackt und muskelbepackt. Ihre Gesichter finster und narbenübersäht.

    Meine tapfere Schwester stach zu und auch meine Schüler stürzten sich in den Kampf.

    Aber sie waren kaum mehr als Kinder. Wir trainierten unseren Körper im Kampf, um ihn für die Meditation zu schulen, nicht um uns gegen Wegelagerer oder Piraten zu schützen. Ich löste meine Linke von der Schulter und sah das klebrige Blut an der Handinnenfläche. Die andere Hand wollte sich nicht heben. Meine Lunge brannte. Die blutigen Finger verschwammen vor meinen Augen und dahinter spritzte das gleiche Rot aus abgeschlagenen Armen und sickerte aus aufgeschlitzten Bäuchen in den kargen Felsgrund. Vielleicht könnte Prior Laurelius noch etwas unternehmen. Er musste die Schreie gehört haben. Langsam rutschte ich an der Säule zu Boden. Meine Augen fielen immer wieder zu. Müsam blinzelte ich sie auf. Leandra wurde am Hals getroffen. Sie drehte sich um sich selbst. Ihre Augen blickten mich ein letztes Mal an, so dunkel wie ein Weiher unter Sternen. Sie hätte nicht mitkommen müssen.

    “Und nun zu dir!”, sagte einer der Wegelagerer und stellte mir den Fuß auf die Wunde.

    Ich japste jammernd auf. Die Schwertspitze verharrte vor meiner Kehle und ich sah an der blanken Klinge zu dem Mörder hinauf. Der andere hinter ihm schüttete den Inhalt von Leandras Satteltaschen auf den Boden, als suche er etwas.

    “Was wollt ihr?”, wollte ich fragen, aber ich weiß nicht, ob die Worte meinen Mund verlassen haben. “Wer seid ihr?”

    Sein bitteres Lachen dröhnte in meinem Kopf. Dann spuckte er mich an.

    “Wir sind auf der Suche nach Elfenbein”, erklärte er mir geradezu fröhlich. Mit seiner freien Hand hielt er einen Stab hoch. Wunderschön fing das bleiche Weiß die Sonne. Wie die Säule. Waren es Wredelins Tauben, die in das Zepter geschnitzt worden waren?

    “Ich habe kein Elfenbein”, stammelte ich.

    “Natürlich nicht”, rief er aus und lachte wieder.

    “Was habt ihr mit mir vor?”, flüsterte ich. Vielleicht würde er sich mit Lösegeld zufrieden geben.

    Da stand der andere plötzlich neben ihn. Er hielt seine Hand hoch, öffnete sie und ließ das Ende einer Kette fallen. In seinem boshaften Grinsen fehlten einige der braunen Zähne. Er beugte sich tiefer, so dass ich seinen fauligen Atem roch und der Halsring auf meine Rippen fiel.

    “Wir helfen dir, bei deiner Buße”, erklärte er.

    Leandra.

    Als sie mich auf der Plattform angekettet hatten, war das letzte, das ich von meiner Schwester sah, ihre schwarzen Locken, als sie sie hinter den Ginsterbusch zogen. Sie hätte mich nie im Stich gelassen.

    Und immer noch keine Spur von Prior Laurelius.


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