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15. Oktober - abends


Y_sea

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"Hedwig Schulz", meldete ich mich fröhlich, als an diesem Abend das Telefon klingelte.

 

"Vanhouten", war die ernste Antwort.

 

Wo hatte ich das schon einmal gehört?

 

"Sie sind der Vater von Marie-Ann!", rief ich erfreut.

 

"Ja. Und Sie sagen gefälligst ihrem Satansbraten, dass er die Finger von meiner Tochter lassen soll."

 

Aha.

 

Ich sah Feanor an, der interessiert vom Küchentisch aus zuhörte, und zog die Augenbrauen hoch.

 

"Wie geht es Ihrer Tochter denn?", fragte ich vorsichtig. "Ist sie verletzt?"

 

"Ein paar Abschürfungen und ein 100-Euro-Pullover ruiniert. Sie können von Glück sagen, dass der Schulranzen nicht kaputt gegangen ist. Der sah aus, als habe er ihn in den Schlamm geschmissen."

 

Ypey verdrehte die Augen und ich spitzte den Mund, damit weder Feanor noch Vanhouten mitkriegten, wie lustig ich das fand.

 

"Das tut mir wirklich leid, Herr Vanhouten. Ich werde mit ihm reden." An dieser Stelle übernahm Ypey. "Um ehrlich zu sein", sagte sie in wesentlich weniger schuldbewusstem Tonfall, "ich habe schon mit ihm geredet und er hat gesagt, Marie-Ann habe ihn mehrfach provoziert." -- "Ich weiß, dass das keine Entschuldigung ist", warf ich schnell ein. "Ich meinte bloß, dass es vielleicht nicht schaden könnte, wenn wir einmal mit den beiden zusammen sprechen, um zu klären, was wirklich vorgefallen ist, oder was die beiden brauchen, um miteinander klar zu kommen."

 

Keine Antwort.

 

"Um Regeln abzumachen."

 

Immer noch nur Schnaufen am anderen Ende des Telefons.

 

"Vielleicht möchten Sie am Wochenende mit ihrer Tochter zum Kaffeetrinken vorbeikommen---?"

 

Er hatte aufgelegt.

 

"Puh", machte ich.

 

"Seine Tochter auch so zickig?", wollte Ypey von Feanor wissen.

 

Der kicherte, während ich Ypey zurecht wies, dass sie sich da raus halten solle.

 

"Weißt du, Feanor", sagte ich etwas traurig und setzte mich zu ihm an den Tisch. "Ich war so froh, als dein Hauen-Problem aufgehört hat. Ich war so froh, dass du angefangen hast, mit Worten zu sagen, was du willst. Wie ist das passiert, dass du dich plötzlich wieder geprügelt hast?"

 

Unzufrieden hockte er auf seinem Stuhl und schmollte.

 

"Ich will dir helfen, Feanor", machte ich sanft. "Ich will dir helfen, durchs Leben zu kommen. Du kriegst nur Schwierigkeiten, wenn du nicht aufhörst zu prügeln."

 

"Sie hat mit Steinen nach mir geworfen!"

 

Ich schob unsere leeren Teller zur Seite, so dass ich mich über den Tisch zu ihm lehnen konnte. Das hatte er heute Nachmittag schon gesagt und ich hatte es einfach stehen gelassen, es nicht so ernst genommen. Solange er sich mit gleich starken Kindern anlegte, war es mir eigentlich egal. Nicht wirklich egal, aber ich konnte es akzeptieren.

 

"Hättest du ihr aus dem Weg gehen können?", fragte ich jetzt nach.

 

"Sie ist hinter mir her gerannt!"

 

"Warum war sie denn so sauer?"

 

"Keine Ahnung ... vielleicht, weil ich gesagt habe, Mädchen könnten nicht werfen."

 

Ich hielt mir schnell die Hand vor den Mund, hatte aber den Verdacht, dass Feanor das Glucksen als Kichern erkannt hatte. Ypey!

 

"Und warum sagst du, Mädchen könnten nicht werfen?"

 

"Na, weil sie mich nicht getroffen hat."

 

Er wollte von seinem Stuhl runter gleiten, aber ich hielt ihn am Arm fest.

 

"Was war dann so schlimm daran, dass sie nach dir wirft?"

 

"Na, zuerst hat sie nicht getroffen, dann schon", gab er kleinlaut zu. "Sie kann ganz schön gut zielen. Für ein Mädchen."

 

"Hey!", machten Ypey und ich empört.

 

"Was soll ich denn machen, wenn sie mich so provoziert?", fragte Feanor plötzlich und schüttelte ärgerlich meine Hand ab.

 

"Zuhauen", sagte Ypey und "Nimm es einfach nicht so ernst, geh' ihr aus dem Weg", sagte ich.

 

Feanor schaute mich verwirrt an.

 

"Ich glaube, sie wollte sich mit mir prügeln", sagte er trotzig. "Und sie hat zuerst meinen Ranzen in den Graben geschmissen, bevor ich sie da hinterher geschubst habe."

 

"Sei ein bisschen vorsichtig, ja?", sagte ich und "Und jetzt zeige ich dir, wie gut "Mädchen" werfen können", sagte Ypey.

 

Hey, ich bin die totale Niete im Werfen, warnte ich sie, aber Ypey schnaubte nur überheblich.

 

Sie nahm Feanor an der Hand und zog ihn in den Garten, machte an der Verandatür nur kurz halt, um die Gartenschuhe anzuziehen.

 

Sie schlenderte über den Rasen und baute fast zwanzig Meter von der Terrasse entfernt drei leere Plastikblumentöpfe in unterschiedlichen Größen auf dem Zaun auf. Auf dem Rückweg hob sie im Gehen Steine auf.

 

"Hier", sagte sie zu Feanor. "Versuche einen zu treffen."

 

Feanor warf.

 

Immerhin traf er den Zaun.

 

"Der kleine", sagte Ypey, warf und der kleine schwarze Plastiknapf wurde drei Meter in den Garten unserer Nachbarin geschleudert.

 

"Wow!", sagte Feanor und ich wünschte, es wäre ich gewesen, die er so bewunderte.

 

Trotzdem fragte ich mich gleich, was Frau Borgwedel wohl denken würde, wenn sie den Topf morgen beim Rasenmähen schredderte.

 

Ypey nickte Feanor zu und er machte seinen zweiten Versuch. Er traf unterhalb des großen Blumentopfes, der wackelte, aber dann doch stehen blieb.

 

Ypey pflückte den mittelgroßen vom Zaun. Deutlich war das Brechen des dünnen Plastiks zu hören, bevor auch dieser Topf über Frau Borgwedels Rasen hopste.

 

Dann stellte Ypey sich hinter Feanor. Sie nahm Feanors linken Arm, den mit dem er nicht warf, und deutete auf den noch verbliebenen großen Plastikblumentopf.

 

"Konzentriere dich", flüsterte sie. "Zeig genau darauf. Das ist dein Ziel. Verbinde dich mit dem Ziel. Die kürzeste Verbindung ist ein Gerade zwischen deiner Hand und dem Ziel. Hol aus. Und wirf."

 

Der Stein traf.

 

Feanor und Ypey tanzten jubelnd auf der Terrasse.

 

Ich schaute zu.

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