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04. September


Y_sea

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Die Spitze der Kugelschreibermine glitt über das karierte Papier meines Notizblocks und formte ein klar umrissenes Dreieck mit ausfließenden Spitzen.

 

"Letzte Woche bin ich von der Konferenz aus Neu Delhi zurück gekommen", erzählte Inga der Arbeitsgruppe. "Neu Delhi war total toll! So große Gegensätze, aber ich hatte nur ganz wenig Zeit mir die Stadt anzugucken. Die Konferenz war auch gut."

 

Ich setzte den Stift neu an und zeichnete weitere Striche, ein weiteres Dreieck.

 

"Ich bin noch mit der Organisation des Workshops nächste Woche beschäftigt", erzählte Karl. "Ich habe eine Auflistung erstellt, an was man alles denken muss, wenn man einen Workshop plant, vielleicht braucht das mal jemand."

 

Noch ein paar Striche und - siehe da! - es wurde eine Katze.

 

Ich freute mich. Ich zeichnete gerne.

 

Warum bist du hier?, fragte Ypey.

 

Ich arbeite hier. Ich bekomme Geld für das, was ich tue.

 

Du bekommst Geld dafür, dass du Katzen zeichnest, während andere Leute erzählen, auf welchen Konferenzen sie waren?

 

Nein!

 

Ich schmunzelte und konzentrierte mich auf Ingrid, die gerade von ihren Problemen beim Überarbeiten eines Papers sprach, das sie für einen Workshop in Maastricht eingereicht hatte.

 

Was machst du dann hier?

 

Es gehört dazu, dass ich darüber bescheid weiß, wer in meiner Arbeitsgruppe was macht. Wir arbeiten ja zum Teil am gleichen Projekt.

 

Und dazu musst du wissen, wer gerade in welche Stadt geflogen ist?

 

Ich zuckte mit den Schultern. Ingrid schaute irritiert rüber und ich blickte schnell auf die Katze auf meinem Notizblock. Ich nahm mir vor, nicht mehr mit äußerlichen Reaktionen auf Ypey zu antworten.

 

Der wissenschaftliche Austausch findet im wesentlichen auf Konferenzen statt.

 

Warum klingt das so auswendig gelernt?

 

Die Spitze meines Kugelschreibers hatte schon wieder einen Bogen auf die Karos gemalt, aber ich stoppte ihn. Es hatte ein Zwiebelturm werden wollen, in meinem Kopf war er schön orange mit gewundenen Linien, die sich spiralenförmig bis zur Spitze schraubten, die mit einer goldenen Kugel gekrönt war. Was wusste ich, wie die Türme in Neu Delhi aussahen.

 

Ich glaube, ich fahre nicht so gerne auf Konferenzen. Nein warte. Ich glaube, ich würde auch gerne nach Neu Delhi fahren und nach Bali und nach Prag und wo sie alle hin gehen. Aber ich kriege nicht mehr als ein oder zwei Konferenzen pro Jahr hin. Und wenn ich dann da bin, ist es oft ganz komisch, weil ich kaum Kontakt bekomme. Das, was man da machen soll. Kontakte knüpfen.

 

Hörst du denen da auch so gut zu, wie deiner Arbeitskollegin gerade?

 

Ich seufzte--- und nahm schnell einen Schluck Wasser, damit die Leute den Seufzer nicht für Langeweile hielten.

 

Nein. Selbst wenn ich da bin, bin ich zur Hälfte mit meinen Gedanken immer zuhause bei Feanor.

 

Ich bin verwirrt, gestand Ypey. Willst du jetzt auf Konferenzen oder nicht? Musst du oder nicht? Musst du wissen, wer wo war?

 

Was weiß ich. So langsam wurde ich ärgerlich. Sie legte zu viele Finger auf zu viele Wunden.

 

Eine Zeitlang ging mein Austausch mit Ypey in der Darstellung des Paradigmenwechsels unter, den Wilhelm, mein Chef, auf seiner letzten Konferenz in Aberdeen bemerkt hatte.

 

Als ich der durchaus interessanten Analyse des Verhältnisses von Wissenschaftlichen Dia- und Prognosen zur politischen Realität nicht mehr folgen konnte, antwortete ich ihr doch noch.

 

Ich glaube, ich hätte gerne die Freiheit, zu spannenden Konferenzen zu fahren, die Lust, die Menschen dort näher kennenzulernen, die Muße, mich mit ihren wissenschaftlichen Ansätzen auseinanderzusetzen und die Selbstsicherheit, gelassen zu bleiben, wenn ich meine Arbeit dort der Kritik der anderen aussetze.

 

Mit dieser Diagnose war ich ganz zufrieden.

 

Ypey auch. Das spürte ich.

 

Warum machst du das dann nicht so?, fragte sie. Natürlich. Sie machte immer, was sie wollte.

 

Ich schnaubte und wandelte es fließend in ein Husten um. Niemand schien es zu bemerken.

 

Nehmen wir nur das erste, antwortete ich ihr entgeistert. Die Freiheit. Jemand muss sich um Feanor kümmern. Robin muss weg können, wenn es in der Firma brennt. Wie soll ich ein halbes Jahr vorher wissen, ob ich in einer bestimmten Woche kann?

 

Haben die anderen keine Kinder?

 

Ich schaute die Runde entlang.

 

Doch. Zwei. Mit mir drei von achtzehn. Plus eine Kollegin, die gerade in Mutterschutz ist, jetzt vielleicht schon in Elternzeit.

 

Aber ab und zu gehst du. Was ist mit der Lust, Leute kennenzulernen?, hakte Ypey nach.

 

Wieder sah ich mich um und musterte meine Kolleginnen und Kollegen.

 

Sie trafen sich manchmal. Zu Spieleabenden. Zu gemeinsamen Ausflügen. Zum Mittagessen. Und dann sprachen sie über ihre Hobbies. Sie sprachen über Politik. Sie sprachen über ihre beruflichen Pläne. Niemand von ihnen konnte mit Rollenspielen etwas anfangen, also erzählte ich nichts davon. Niemand von ihnen konnte meinen pamphletischen Ausbrüchen über aktuelle Tagespolitik etwas abgewinnen, also hatte ich sie eingestellt, statt die Mittagessen zu Streitgesprächen werden zu lassen. Ich selbst hatte keine großen beruflichen Ambitionen, ich wollte einfach gute Wissenschaft machen. Die Karrierepläne der anderen hinterließen in mir ein flaues Gefühl, als hätte ich etwas vergessen. Also hörte ich schweigend zu, wenn sie über Kanutouren, die Verwendung der Studiengebühren oder die wichtigen Leute redeten.

 

Warum, Ypey?, fragte ich sie traurig. Warum sollte ich viel mit Leuten zu tun haben, die nur dann Gemeinsamkeiten zu mir sehen, wenn ich mich verstelle?

 

Sie gab keine Antwort.

 

Aber ich spürte ihre Präsenz.

 

Und fand sie tröstlich, bis---

 

Akzeptierst du sie denn so, wie sie sind?

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